Deutsche Rentenversicherung

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Ermordung und pflegerische Vernachlässigung von Tuberkulose-Patienten in den Kliniken der gesetzlichen Rentenversicherung im Nationalsozialismus

Projektleitung: PD Dr. Winfried Süß (Zentrum für Zeithistorische Forschung)

PD Dr. Winfried Süß und Dr. Patrick Bernhard führten das Projekt von Mai 2015 bis Dezember 2017 durch. Zur Umsetzung des Vorhabens griffen die Forscher auf eine Fülle von Quellen aus Fachzeitschriften, medizinischen Dissertationen oder Lehrbüchern sowie lokalen (z.B. Psychiatrische Universitätsklinik Regensburg), regionalen (z.B. Staatsarchiv Hamburg) und nationalen (z.B. Bundesarchiv) Archivbeständen zurück. Aus den Aktenbeständen der Regionalträger der Deutschen Rentenversicherung konnten jedoch keine für das Projekt relevanten Daten gefunden werden.

Die Ergebnisse des Projekts gliedern die Forscher in drei Aspekte auf. Erstens schließen sie aus dem untersuchten Material, dass die Ausgrenzung und Tötung von als „asozial“ bezeichneten Tuberkulosepatienten zeitlich weit vor dem Nationalsozialismus schon in der Weimarer Republik diskursiv vorbereitet wurde. Eine entscheidende Rolle spielte dabei der Erste Weltkrieg, durch welchen es in Deutschland zu einem drastischen Anstieg der ohnehin schon die Hälfte aller Sterbefälle im Alter von 15-40 Jahren verursachenden Tuberkuloseerkrankung kam. Eine weitere Ausbreitung sollte „unter allen Umständen“ und „mit allen Mitteln“ verhindert werden. Die Auseinandersetzung der Mediziner mit der bis dato bestehenden Tuberkulosebekämpfung führte zu einer massiven Kritik an den stationären Behandlungen. Die Krankheit sollte schon im Anfangsstadium entdeckt, behandelt und Neuansteckungen sollten verhindert werden, weshalb den ambulanten Fürsorgestellen zur frühzeitigen Bekämpfung der Krankheit besondere Bedeutung beigemessen wurde. Damit gingen aber auch stärkere Kontrolle und letztlich eine veränderte Sichtweise auf die Krankheit und Kranke einher. Nicht mehr die Hilfsbedürftigkeit von Tuberkulosekranken stand im Vordergrund sondern deren Verhalten war entscheidend. Kranken, die sich nicht an ärztliche Anweisungen hielten, wurde psychopathologisches Fehlverhalten bescheinigt. Sie galten als böswillig und wurden später als „asozial“ deklariert. Diese Entwicklung vollzog sich Anfang der 1920er bis Anfang der 1930er Jahre und hatte die weitere Ausgrenzung von Randgruppen wie Alkoholikern, Prostituierten oder Obdachlosen zur Folge. Als Konsequenz daraus sollten zur Bekämpfung der Krankheit Tuberkulosepatienten mit deren Zustimmung zwangsweise untergebracht werden. Außerdem gab es in der Tuberkulosebekämpfung erste Berührungspunkte mit „Euthanasieüberlegungen“. Aufgrund der Tatsache, dass es sich bei Tuberkulose um eine chronische Krankheit handelt und dies auch längere Erwerbsunfähigkeit bedeutete, übernahmen die Landesversicherungsanstalten seit Ende des 19. Jahrhunderts die Kosten für stationäre Behandlungen in Lungenheilstätten und waren so direkt in die Tuberkulosebekämpfung eingebunden.

So folgern Bernard und Süß zweitens, dass die Rentenversicherung auch während der Zeit des Nationalsozialismus strukturell in die öffentliche Gesundheitspolitik eingebunden war und zusammen mit dem Regime an der Tuberkulosebekämpfung arbeitete. Dabei sind unterschiedliche Dynamiken zu erkennen, die u.a. auf Zwänge, institutionelle Kontinuitäten, ein spezifisches Traditionsverständnis, auf ideologische Schnittmengen im Denken von NS-Gesundheitspolitikern und leitenden Mitarbeitern der Rentenversicherung oder auf Eigeninteressen der Heilanstalten zurückzuführen sind. Einerseits sorgten die nationalsozialistischen Personalsäuberungsaktionen und ihre Pläne, eine Einheitshilfe für Tuberkulosekranke zu errichten, für Konflikte und Konkurrenz zwischen der Rentenversicherung und dem Regime. So zwang man die Rentenversicherung durch die Ausweitung staatlicher Hilfen für nicht-versicherte Tuberkulosekranke dazu, die Leistungen für ihre eigenen Versicherten ebenfalls zu erweitern, was eine gewisse finanzielle Überbeanspruchung bedeutete. Andererseits trug die Rentenversicherung das System mit, indem z.B. die Landesversicherungsanstalten in großem Maße die Tuberkulosefürsorgestellen (finanziell) unterstützten, berieten und kontrollierten. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde die bestehende Alltagspraxis der Tuberkulosebekämpfung weitestgehend fortgesetzt, aber es ließ sich schon früh eine Radikalisierung erkennen. 1934 wurde die Zwangsasylierung in Sonderanstalten für „asoziale“ Tuberkulosekranke ohne deren formale Einwilligung durch eine rechtliche Grundlage gestützt. In diesen Sonderanstalten herrschten teilweise haftähnliche Bedingungen mit Arbeitszwang, seelischer und körperlicher Misshandlung bis hin zur Tötung. Einige Mitarbeiter der Rentenversicherung und Lungenfachärzte arbeiteten aufgrund ideologischer Affinitäten auch eng mit NS-Gesundheitspolitikern zusammen oder forcierten radikale Entwicklungen, so dass es zu einer Normalisierung von Gewalt gegenüber Tuberkulosepatienten kam. Ca. 3000 Patienten starben in den Sonderanstalten aufgrund dieser Behandlung. Mitarbeiter der LVA Heilstätten konnten die Sonderanstalten aus als Drohkulisse verwenden, um Patienten einzuschüchtern und gefügig zu machen. Einen konkreten Fall von Patientenmord konnten Bernhard und Süß im Rahmen ihrer Untersuchung ausmachen: In der von der LVA-Mecklenburg betriebenen Heilstätte Amsee bei Waren/Müritz hatte ein Arzt 1945 kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges sieben Patientinnen mit einer Überdosierung des Narkotikums Evipan getötet.

Abschließend stellen Bernhard und Süß drittens heraus, dass die Verbrechen an Tuberkulosekranken während des Nationalsozialismus kaum juristisch aufgearbeitet und geahndet wurden. Auch ist insgesamt wenig darüber bekannt, wie nach dem Krieg mit diesen Verbrechen umgegangen wurde. Als mögliche Gründe dafür sehen die Forscher zum einen erhebliche Schwierigkeiten bei der Beweiserhebung. Zum anderen benennen sie fehlenden Mut und Konformitätsdruck, z.B. schreckten Zeugen davor zurück, Täter bei Behörden anzuzeigen. Letztlich bescheinigen sie den ermittelnden Staatsanwaltschaften Unwillen, Verbrechen zu ahnden, die in nicht als genuin nationalsozialistisch begriffenen Institutionen begangen worden waren. Auch nach 1945 hielt sich unter Lungenfachärzten die Auffassung des Fehlverhaltens von Kranken und der Gefahr durch Tuberkulosepatienten für die Gesellschaft. Die Kategorie der asozialen Tuberkulosekranken wurde über Jahrzehnte weiterverwendet und findet sich noch heute im Sprachgebrauch von Behörden, z.B. im Bayerischen Besoldungsrecht (s. §13 Bayerische Zulagenverordnung).