Deutsche Rentenversicherung

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Fachgespräch "(Nicht)Inanspruchnahme des tariflich fixierten Altersversorgungsbeitrags im Einzelhandel. Individuelle und strukturelle Konstellationen"

Montag, 31. Oktober 2022, 16.00 bis 18.00 Uhr

Zum Thema

Am 31.10.2022 präsentierten Wolfgang Schroeder, Samuel Greef und Lukas Heller (Universität Kassel) im FNA-Fachgespräch die Ergebnisse ihres Projektes zur (Nicht)Inanspruchnahme von betrieblicher Altersversorgung (bAV). Die Forscher analysierten, welche individuellen und strukturellen Faktoren dazu führen, dass Angestellte im Einzelhandel den tariflich fixierten, arbeitgeberfinanzierten Altersversorgungsbeitrag von jährlich 300 Euro (bei Vollzeit, 150 Euro für Auszubildende) nicht beantragen und folglich ungenutzt lassen. Daran anknüpfend eruierten sie in ihrer qualitativ-explorativen Studie, welche Instrumente, Maßnahmen und Anreize geeignet sind, um die Quote der Inanspruchnahme zu erhöhen.

Der Tarifabschluss zur arbeitgeberfinanzierten betrieblichen Altersversorgung im Einzelhandel zwischen der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) und dem Handelsverband des Einzelhandels (HDE) stammt aus dem Jahr 2001. Er besagt, dass alle sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Einzelhandel nach einer Betriebszugehörigkeit von sechs Monaten antragsberechtigt sind (Opt-in). Es besteht außerdem die Möglichkeit der zusätzlichen Entgeltumwandlung. Die Gewerkschaften sahen den Tarifabschluss als wichtigen Baustein für die Schließung der „Rentenlücke“ der Angestellten und hofften zudem auf „steigende Popularität“ der Interessenvertretung. Es verband sich damit auch die Hoffnung, durch die betrieblichen Leistungen zur Altersversorgung, die Attraktivität der Beschäftigung im Handel zu erhöhen.

Anfangs als „Selbstläufer“ mit einer erwarteten Inanspruchnahmequote von 70 % eingeschätzt, fällt die Bilanz nach 20 Jahren eher ernüchternd aus. Gesicherte Daten liegen nicht vor, aber Schätzungen gehen von einer Inanspruchnahme von insgesamt deutlich unter 50 % aus (wenn auch mit großer Variation zwischen Unternehmen und innerhalb von Unternehmen mit mehreren Filialen). Dies ist gerade auch deswegen irritierend, da die Angestellten diese Leistung in Anspruch nehmen können, ohne selbst einen Zusatzbetrag von ihrem Nettogehalt investieren zu müssen.

Auf der Suche nach hemmenden Faktoren für die Inanspruchnahme fanden die Forscher eine Reihe von ungünstigen Rahmenbedingungen in der Branchenstruktur: Es handelt sich überwiegend um Klein- und Kleinstbetriebe (46 % haben nur 1-2 Mitarbeiter:innen). Im Einzelhandel besteht zudem ein großer Frauenanteil (67 %) und viele arbeiten in Teilzeit (37 %) oder als Minijobber:innen (25 %). Dies hat zur Folge, dass sowohl die Tarifbindung der Betriebe als auch die betriebliche Mitbestimmung sowie der Organisierungsgrad in der Gewerkschaft nicht stark ausgeprägt sind. Als wesentliche Gründe für Nichtinanspruchnahme nannten die interviewten Personen aus dem direkten betrieblichen Umfeld Passivität der Arbeitgeber, aber auch des Betriebsrats und der Gewerkschaft. Auf Seiten der Beschäftigten ergab die verhaltensökonomische Analyse Gründe wie Aufschieben von wichtigen Entscheidungen, fehlendes Wissen über Angebote, Desinteresse, Misstrauen gegenüber Versicherungen oder Falschinformation/Missverständnisse. Insbesondere jüngere Beschäftigte und in Teilzeit Arbeitende sind dabei schwieriger zu motivieren.

"Die Anmeldung zur Betriebsrente im Einzelhandel muss obligatorisch sein, weil individuelle Hürden beim Antragserfordernis unter den strukturellen Faktoren der Branche nicht kompensiert werden können.“
Prof. Dr. Wolfgang Schroeder

Das Forscherteam hat im Rahmen der Studie auch nach Maßnahmen gesucht, um die Inanspruchnahme zu steigern. Daraus abgeleitete Handlungsempfehlungen raten zu einer direkten Ansprache der Mitarbeiter:innen durch Betriebsrät:innen. Das Thema bAV sollte zudem prominent auf der Agenda der Betriebsversammlung besprochen und Informationen in unterschiedlichen Formaten bereitgestellt werden. Bei Arbeitgebern erscheinen der Hinweis auf die Möglichkeit auf Inanspruchnahme direkt bei der Einstellung sowie die Bereitstellung von Informationen im Intranet am erfolgversprechendsten. Insgesamt raten die Forscher zu einem Wechsel von Opt-In zu einem Opt-Out-Verfahren, um strukturellen Faktoren der Nichtinanspruchnahme effektiv entgegenzuwirken. Zusätzlich empfehlen sie gezielte gewerkschaftliche Kampagnen unter Einbindung der Betriebsrät:innen, eine gezielte Vernetzung und die Kommunikation von Best Practice Beispielen, die Erhöhung von tarifpolitischen Anreizen, das Einbinden von Arbeitgebern bei der Bereitstellung von Informationen, eine regelmäßige gezielte Kontaktaufnahme mit den Beschäftigten und deren Gewinnung als Multiplikatoren sowie eine möglichst einfache Gestaltung des Antragsverfahrens.

Im Anschluss an die Präsentation kommentierten Vertreter:innen von ver.di und dem HDE die Studienergebnisse.

Abschlsussveranstaltung des Projekts "Verhaltensökonomische Wirkung der Besteuerung von Altersvorsorgeprodukten auf das individuelle Sparverhalten"

Judith Kerschbaumer (ver.di) wies zunächst darauf hin, dass die Gewerkschaften nicht erwartet hatten, dass das Antragserfordernis für die Beschäftigten eine so große Hürde darstellen würde. Seit Einführung der arbeitgeberfinanzierten betrieblichen Altersversorgung hätten die Beschäftigten auf sehr viel Geld verzichtet. Geld, das sie durch die Umwidmung der vermögenswirksamen Leistungen und Verzicht auf tarifliche Erhöhungen bereits bezahlt haben – laut Schätzungen der Forscher umfasst die Summe rund 1,2 Milliarden Euro. Diesen Betrag hätten die Arbeitgeber seitdem eingespart – ein Profit der Arbeitgeber zulasten der Beschäftigten. Bei einer Vollzeitbeschäftigten belaufe sich der Verzicht auf den Vorsorgebetrag von jährlich 300 Euro nach 20 Jahren auf 6.000 Euro unverzinstes Kapital. Gerade aber im Einzelhandel bei einem aktuellen Tarifgehalt in der Endstufe von rund 2.700 Euro monatliches Brutto würde jeder Euro gebraucht werden, um die gesetzliche Rente aufzubessern und Armut im Alter zu verhindern. Aus der Studie leitete Kerschbaumer drei konkrete Maßnahmen aus Arbeitnehmer:innensicht ab: Um dem Hemmnis der Antragstellung entgegenzuwirken, sprach sie sich erstens für einen Wechsel von Opt-In zu Opt-Out mit einer entsprechenden Informationskampagne aus. Die Erfahrung habe gezeigt, dass dort, wo Betriebsrat und Arbeitgeber zusammen für die betriebliche Altersversorgung werben, die Inanspruchnahme mehr als deutlich angestiegen sei. Zweitens sollte eine Dynamisierung und Anhebung des Altersversorgungsbetrags auf 480 Euro unter Einbeziehung der Geringverdienerförderung stattfinden. Dazu sollten auch die Möglichkeiten der Zulagenförderung genutzt werden. Gerade im Einzelhandel, wo überwiegend Frauen auch in Teilzeit arbeiten, könnte so ein höheres Einkommen im Alter erzielt werden. Drittens schlug Kerschbaumer eine gemeinsame Informationskampagne der Sozialpartner zur betrieblichen Altersversorgung vor. Dabei wies sie auf die neue Möglichkeit der reinen Beitragszusage in Sozialpartnermodellen hin, die sich ganz besonders gut im Einzelhandel tariflich umsetzen ließen. Hierin läge auch die Chance, die Tarifbindung wieder zu stärken und den Einzelhandel als modernen Arbeitgeber zu adressieren und damit dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.

Abschlsussveranstaltung des Projekts "Verhaltensökonomische Wirkung der Besteuerung von Altersvorsorgeprodukten auf das individuelle Sparverhalten"

Steven Haarke (HDE) betonte die aktuell äußerst schwierige Lage der Einzelhandelsbranche aufgrund der Energiekrise, der hohen Inflation sowie einer historischen Kaufzurückhaltung der Verbraucher. Er stellte sodann die Beschäftigungsstruktur im Einzelhandel dar und bestätigte dabei u.a. den hohen Anteil an Teilzeitbeschäftigung in der Branche, der ganz überwiegend strukturelle Gründe habe. Ergänzend verwies er auf die im Zusammenhang mit der Altersvorsorge eher ungünstige Altersstruktur in der Branche. So seien mehr als 70 % der Beschäftigten im Einzelhandel entweder unter 40 Jahre oder über 55 Jahre alt. Gleichzeitig machte Haarke darauf aufmerksam, dass die Beschäftigten im Einzelhandel in den letzten zehn Jahren trotz der aktuellen Rekordinflation einen Reallohnzuwachs erhalten hätten. Er wies daraufhin, dass die Branche trotz Corona-Krise in den letzten beiden Jahren noch zusätzliche sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aufgebaut habe und inzwischen mehr als 3,1 Millionen Menschen im deutschen Einzelhandel tätig seien. Die Tarifbindung im Einzelhandel habe sich in den letzten Jahren zudem auf niedrigem Niveau bei 28 % stabilisiert. Hintergrund sei hier auch der Fachkräftemangel. Um die Tarifbindung im Einzelhandel wieder zu stärken, sah er beide Sozialpartner in der Verantwortung, moderne und attraktive Tarifverträge zu beschließen. Eine Allgemeinverbindlichkeit lehnte er als Eingriff in die Tarifautonomie (Art. 9 Abs. III GG) strikt ab, dies müsse die große Ausnahme bleiben. Eine Lösung in Form eines Opt-Out-Verfahrens im Tarifvertrag für die Altersvorsorge hielt er nicht für zielführend, dies könne „Bevormundungsgefühle“ bei den Menschen auslösen. Ein Sozialpartnermodell im Einzelhandel sah er aufgrund der aktuell schwierigen Rahmenbedingungen für die Branche als wenig realistisch an.

Abschlsussveranstaltung des Projekts "Verhaltensökonomische Wirkung der Besteuerung von Altersvorsorgeprodukten auf das individuelle Sparverhalten"Quelle:Foto FNA

In der von Dr. Reinhold Thiede (DRV Bund) moderierten Diskussionsrunde, standen zunächst die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen und Rahmenbedingungen, wie hohe Inflation und hohe Energiepreise, im Vordergrund. Diese schaffen unsichere Aussichten und bilden eine schwierige Ausgangssituation für die nächsten Tarifrunden. Des Weiteren wurde noch einmal deutlich, dass die Betriebsrät:innen durch ihre vielgestaltigen Aufgaben stark belastet sind und oft die Zeit fehlt, Beschäftigte adäquat zu informieren und für betriebliche Altersversorgung zu motivieren. Allerdings sahen die Diskussionsteilnehmer:innen in der arbeitgeberfinanzierten betrieblichen Altersversorgung durchaus auch eine große Chance, im Fach-/Arbeitskräftemangel des Einzelhandels für Beschäftigte attraktiv zu sein. Trotz Diskrepanzen hinsichtlich gangbarer Wege hin zu einer vermehrten Inanspruchnahme waren sich Haarke und Kerschbaumer in einem Punkt einig: Mehr Tarifbindung im Einzelhandel wäre zu begrüßen. Die abschließende Frage, ob es helfen könne, die Inanspruchnahme zu erhöhen, wenn der arbeitgeberfinanzierte Altersversorgungsbeitrag als Zusatzbeitrag in die Rentenversicherung eingezahlt würde, verneinten sie spontan einhellig.